„Kinder aus suchtbelasteten Familien haben ein Recht auf Unterstützung"

Rede zum Antrag "Verbesserung der Versorgung Schwangerer, Eltern und Kinder aus suchtbelasteten sowie psychisch belasteten Familien" im Plenum des Thüringer Landtags 

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

liebe Kolleg*innen,

liebe Zuschauer*innen auf der Besuchertribüne und am Livestream,

 

der Antrag, welchen wir heute abschließend beraten, hat bereits eine lange Geschichte hinter sich. So brachte im Februar des vergangenen Jahres die CDU-Fraktion einen Antrag mit dem Titel „Drogenabhängige Schwangere und Mütter in Thüringen“ in das Plenum ein, dieser wurde in den Ausschuss für Soziales, Arbeit und Gesundheit überwiesen, dort beraten und es wurden 3(!) öffentliche Anhörungen durchgeführt. Dies war nötig, da sich immer wieder neue Problemlagen auftaten bzw. sich immer wieder Nachfragen ergaben.

Im Ergebnis der Behandlung im Ausschuss haben alle vier demokratischen Fraktionen einvernehmlich einen gemeinsamen, umfassenderen Antrag erarbeitet, der den zutage getretenen Problemlagen Rechnung trägt.  Die CDU-Fraktion hat daraufhin ihren ursprünglichen Antrag zurückgezogen.

Mit dem nun vorliegenden Antrag sollen durch verschiedene Maßnahmen auf Landes- und Bundesebene die bedarfsgerechte Versorgung und Beratung von Schwangeren, Eltern und Kindern aus suchtbelasteten Familien sowie Eltern mit psychischer Erkrankung weiterentwickelt und verbessert werden.

Im Folgenden möchte ich kurz erläutern, warum das notwendig ist und auf welche Problemlagen wir in der Anhörung gestoßen sind.

In Deutschland leben etwa 2,6 Millionen Kinder mit alkoholkranken Eltern zusammen. Hinzu kommen ca. 40.000 bis 60.000 Kinder drogenabhängiger Eltern. Damit ist jedes 6. Kind von einer Suchtkrankheit in der Familie betroffen.

Und hier sind die Kinder, die unter nichtstofflichen Abhängigkeiten im Elternhaus leiden - wie z. B. Spielsucht oder Online-Sucht - noch gar nicht mit eingerechnet, da sich diese Zahlen nur sehr schwer einschätzen lassen.

Alle diese Kinder sind oft durch ihre Sozialisationsbedingungen schwerbelastet und benachteiligt. Laut Statistik wird ein Drittel von ihnen später selbst abhängig. Ein weiteres Drittel wird psychische oder soziale Störungen entwickeln. Und nur ein Drittel wird es schaffen, aus dieser belastenden Situation mehr oder weniger unbeschadet hervorzugehen.

Kinder aus suchtbelasteten Familien werden auch als „vergessene Kinder“ bezeichnet, einerseits weil ihre Eltern mit ihrer Aufmerksamkeit vollständig um ihre Sucht kreisen - So bleibt für die Kinder kaum Raum für Zuwendung – andererseits aber auch weil sie von der Gesellschaft vergessen werden. Kinder suchtkranker Eltern erhalten in Deutschland eben nicht die Aufmerksamkeit, die sie benötigen: so wird immer noch die Alkoholproblematik in der Gesellschaft verharmlost und die vielfältigen Schäden und Belastungen dieser Kinder zu wenig ernst genommen. In Kindergärten, Schulen und im Gesundheitswesen fehlt es an Wissen über diese Kinder. Die Mitarbeiter*innen in diesen Bereichen sind im Umgang mit Kindern suchtkranker Eltern oft überfordert.

Hinzu kommt, dass die vorhandenen Hilfesysteme zu wenig miteinander kooperieren, sodass Kinder aus suchtbelasteten Familien allzu oft durch die Maschen der Hilfenetze hindurchrutschen.

Eigentlich ist Deutschland bekannt für seine Bürokratie, alles ist gesetzlich geregelt, Zuständigkeiten und Verfahrenswege sind klar und eindeutig beschrieben. Dies trifft natürlich auch auf die sozialen Leistungen zu. Lässt man die Frage, nach der Feinmaschigkeit des sozialen Netzes und der Sinnhaftigkeit mancher gesetzlicher Regelungen einmal außen vor, so verfügt Deutschland mit seinen 12 Teilen des Sozialgesetzbuches über ein gut strukturiertes Reglungssystem sozialer Dienstleistungen.

Betrachten wir doch einmal die verschiedenen Hilfen, die bei einer suchtkranken Familie zum Tragen kommen. Nehmen wir als Beispiel eine alkoholkranke Mutter, nennen wir sie Frau Schmidt, mit ihrem 5-jährigen Sohn Jonathan.

• Zuerst macht Frau Schmidt eine Entgiftung, also ein körperlicher Entzug in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus. Diese „medizinische Heilbehandlung“ ist eine Hilfe nach dem SGB V. Die Kosten und Leistungsträger dafür sind (in der Regel) die Krankenkassen.

• Danach macht Frau Schmidt eine „Medizinische Rehabilitation", also die eigentliche Entwöhnung in einer Fachklinik für Suchterkrankungen. Dies ist eine Hilfe nach dem SGB VI, wofürwiederum die Rentenversicherungsanstalten die Kosten- und Leistungsträger sind.

• Wir dürfen aber auch Frau Schmidts Sohn Jonathan nicht vergessen. Denn nehmen wir an, dass dieser während der Entgiftung der Mutter stationär in einer Kinder- und Jugendeinrichtung betreut wurde und dass Mutter und Sohn Hilfen zur Erziehung erhalten. Dies sind wiederum Maßnahmen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, also Hilfen nach dem SGB VIII.

• Und dazu kommen noch die Bestimmungen des sogenannten Klammergesetzes – des SGB IX, wonach Maßnahmen nach den verschiedenen Teilen der Sozialgesetzbücher so von den Sozialleistungsträgern miteinander zu koppeln sind, dass sie für die Betroffenen als Maßnahmen wie aus einer Hand wirken sollen.

Wir haben es also allein in unserem Beispiel von Frau Schmidt und Jonathan mit 4(!) verschiedenen Sozialgesetzbüchern zu tun.

Klare Regelungen und Zuständigkeiten haben aber auch unerwünschte Nebenwirkungen, sie können zu einer Versäulung von Hilfesystemen führen. Dann verlaufen zwischen den zuständigen Behörden und Kostenträgern unüberwindbare Gräben und führen zu Situationen, die für Betroffene und Außenstehende nur schwer nachvollziehbar sind. 

So übertritt Frau Schmidt in unserem Beispiel bei der Entlassung aus der akutklinischen in die rehabilitative Versorgung (also von der Entgiftung in die Entwöhnung) eine Grenze – nämlich von  stationär zu ambulant. Die Kosten des stationären Entzuges werden grundsätzlich von der Krankenversicherung übernommen, die Entwöhnung und Rehabilitation jedoch in vielen Fällen von der Rentenversicherung.

Im besten Falle soll dieser Übertritt nahtlos gelingen. Verschiedene Krankenkassen, Krankenhäuser und die Rentenversicherungsanstalten haben sich im Juli letzten Jahres auf ein sogenanntes „Nahtlosverfahren“ verständigt, welches den Zugang zur Suchtrehabilitation verbessern soll. „Herzstück“ dieses Verfahrens ist die begleitete Anreise der Patientin vom Krankenhaus in die Entwöhnungseinrichtung. Aber: die Realität ist leider eine andere. In der Anhörung wurde uns öfter berichtet, dass die Bearbeitung und Bewilligungen der Reha-Anträge zu lange dauert oder das ein Nahtlosverfahren aufgrund von Platzmangel in den Folge-Einrichtungen nicht möglich gar nicht möglich sind.

Für unsere Frau Schmidt bedeutet das, dass sie nach der Entgiftung in der psychiatrischen Fachklinik zurück nach Hause in ihr altes, gewohntes Umfeld geschickt wird. Sie hat bisher nur den körperlichen Entzug hinter sich. Sie hat noch nicht gelernt ihren Alltag neu zu organisieren und mit dem Suchtdruck umzugehen. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass solch ein Vorgehen absurd und unverantwortbar ist.

Kommen wir zu einem weiteren Problem. Frau Schmidt hat nun einen Platz in einer Rehabilitationseinrichtung und Jonathan darf als Begleitkind auch bei ihr sein. Doch nur selten und nur verbunden mit einem sehr hohen organisatorischen Aufwand, wie z. B. im Suchthilfezentrum Wendepunkt in Wolfersdorf, gelingt es den Einrichtungen die notwendige sozialpädagogische Unterstützungsbedarfe für Begleitkinder durch die Kinder- und Jugendhilfe zu erhalten. Denn oftmals scheitert die Realisierung an zu vielen bürokratischen Hürden.

Und nicht nur das. Die Klinik Römhild schrieb in ihrer Stellungnahme (ich ziteiere): „Nachteilig ist, bei uns können die Kinder lediglich als Begleitkinder aufgenommen werden, obwohl sie parallel eigentlich einer eigenen psychotherapeutischen Behandlung bedürfen.“ Auf Nachfrage, warum das nicht möglich sei, erwiderten sie, dass die Krankenkassen eine psychotherapeutische Behandlung des Kindes ablehnen, solange sich ein Elternteil in einer Reha-Maßnahme befindet. Und das eigentlich Absurde ist, dass in der Klinik in Römhild das nötige Fachpersonal für eine Therapie der Kinder vor Ort ist, es müsste sich nur ein Kostenträger dafür finden.

Bereits 2003 wurden auf einer Fachkonferenz im Bundesgesundheitsministerium 10 Eckpunkte zur Verbesserung der Situation von Kindern aus suchtbelasteten Familien verabschiedet. Unter Punkt 1 heißt es da: „Kinder aus suchtbelasteten Familien haben ein Recht auf Unterstützung und Hilfe, unabhängig davon, ob ihre Eltern bereits Hilfeangebote in Anspruch nehmen.“ Doch bis heute ist nichts geschehen, um diesen Kindern einen gesetzlichen Anspruch auf Hilfe zu geben. Die Bundesdrogenberichte halten immer wieder fest, dass Kindern von Suchtkranken in Deutschland oft keine adäquate Hilfe und Unterstützung erhalten und dass für sie eine flächendeckende Hilfe im Rahmen einer Regelfinanzierung notwendig ist. Wie diese Regelfinanzierung sichergestellt werden kann, darauf hat die Bundespolitik bis heute keine Antwort gegeben.

Es gibt in den Sozialgesetzbüchern keine Anspruchsgrundlage für diese Kinder auf präventive Hilfe. Erst wenn es zu spät ist, erst wenn die Kinder und Jugendlichen - infolge ihres Aufwachsens in einer dauerhaft von Unberechenbarkeit und emotionaler Abwesenheit der Eltern geprägten Atmosphäre –krank oder sozial auffällig werden, erst dann greifen die Hilfeansprüche aus der Jugendhilfe oder der Krankenversicherung.

Die umfangreiche Anhörung verschiedener Vereine, Fachverbände, Leistungserbringer und Kostenträger zum Thema hat gezeigt, dass die Behandlung suchtkranker Eltern mit ihren Kindern mit dem Angebot der gemeinsamen stationären Aufnahme eine große Chance dafür bietet, die Kontinuität der Beziehung aufrechtzuhalten und die gegenseitigen Ressourcen zu nutzen und zu stärken. Aus diesem Grund sollte eine Anpassung der erforderlichen gesetzlichen Grundlagen, der Behandlungszeiten und Rahmenbedingungen sowohl für die Entgiftung, die Rehabilitation und die ambulante Nachsorge für suchtkranke Eltern mit ihren Kindern unterstützt werden.

Die im Antrag aufgeführten Maßnahmen auf Landes- und Bundesebene, die sich aus der Anhörung ergeben haben, sollen auch dazu führen, dass bei einem entsprechenden Behandlungsbedarf eine zeitnahe Umwandlung des Status des Kindes als „Begleitperson“ in den des Patienten mit entsprechenden Behandlungen und Therapien möglich wird.

Der Kinder- u. Jugendlichenpsychotherapeut Prof. Dr. Stachowske, welcher Anfang der 90er eine stationäre Eltern-Kind-Einrichtung für drogenabhängige Eltern und ihre Kinder konzipierte und bis 2011 leitete, drückte es in seiner Stellungnahme so aus (ich zitiere): „Aufgrund dieser Erfahrung möchte ich ohne Einschränkung drauf hinweisen, dass gut entwickelte Therapieangebote für Eltern und ihre Kinder — und dies meint Kinder jeglichen Alters - sinnvolle und erfolgreiche Therapiekonzepte sein können. Von den Eltern und ihren Kindern, die die Therapieprozesse regelhaft beendet haben, ist kaum jemand rückfällig geworden. Viele der Kinder, die an diesen Therapien teilgenommen haben, habe ich auch mittel- und langfristig in ihrer Lebensentwicklung begleiten können. Ich weiß, dass sie hohe Bildungsabschlüsse erreicht haben, dass sie sich zu kreativen und liebenswürdigen Menschen entwickelt haben, es sind Studienabschlüsse im In- und Ausland abgeschlossen worden usw. Kurz dies ist die geeignete und für mich die einzig geeignete Art der Therapie dieser Familiensysteme.“ 

Auch bei allen Belastungen in diesen Familien: auch diese Kinder lieben ihre Eltern. Mit der richtigen Art von Unterstützung können die Familien mit den suchtbedingten Schwierigkeiten zurechtkommen und die Kinder haben dann eine gute Chance, sich zu gesunden, reifen und lebensfrohen Erwachsenen zu entwickeln.

Und Ziel muss es sein, die Eltern trotz Suchterkrankung zu unterstützen – schließlich sind diese Menschen krank und eine vorsätzliche Schädigung der Kinder ist, - wie bei allen anderen Eltern auch - die Ausnahme.

 

Vielen Dank.