"Die Tür zur Zukunft fällt nicht ins Schloss, sie geht gar nicht erst auf."

Rede zur Kinderarmut im Plenum des Thüringer Landtages

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

werte Kolleg*innen,

liebe Zuschauer*innen auf der Besuchertribüne und am Livestream,

ich möchte, ergänzend zu meiner Kollegin Karola Stange, in meiner Rede den Schwerpunkt auf ein spezielles Thema legen, welches eine besondere, eine subtile Form der Ausgrenzung und Gewalt gegenüber den Schwächsten in unsere Gesellschaft in sich birgt: der Kinderarmut.

Erscheinungsformen der Kinderarmut

Kinderarmut ist leider ein immer noch zu wenig beachtetes Thema im politischen Diskurs. Dies hat verschiedene Gründe. Unser Armutsbild ist von drastischer Not, Hunger und Obdachlosigkeit geprägt, Kinderarmut dagegen äußert sich weniger spektakulär - ja, oftmals wird sie sogar gar nicht als solche erkannt.

Des Weiteren wird oft versucht die Schuld für die Notsituation den Armen selbst zuzuschreiben - im Falle der Kinder sind es natürlich deren Eltern, die gesellschaftlich als "faul", "asozial" oder "Säufer" betrachtet werden. Es wird Ihnen unterstellt, sie hätten sich selbst in diese Lage gebracht und daher wird von ihnen auch erwartet, dass sie sich aus dieser Misere - ein bisschen wie Münchhausen, der sich am eigenem Haar aus dem Sumpf zieht - selber helfen.

Aber Kinderarmut stellt nicht nur in den sogenannten "Ländern der 3. Welt" ein Problem dar, sondern auch in Thüringen. Und hier kann sie sogar erniedrigender und deprimierender sein, weil sie sich - wenn auch nicht als absolutes Elend - so doch als soziale Ungleichheit und Ausgrenzung äußert. Armen Kindern fehlt neben dem Markenschuh und der Wertschätzung meistens auch das Selbstbewusstsein, Chancen zu ergreifen. Sie erleben oft mehr Streit zu Hause, neigen öfter zu Risikoverhalten, müssen häufiger Klassen wiederholen. Die Tür zur Zukunft fällt da nicht ins Schloss, sie geht gar nicht erst auf.

Arme Kinder leiden nicht nur unter schlechter Ernährung und unzureichender ärztlicher Versorgung. Sie haben auch schlechtere Chancen auf Bildung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie später eine Hochschule besuchen ist um ein vielfaches geringer als bei gleichaltrigen Kindern mit anderen sozialen und finanziellen Voraussetzungen. Ihre Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und soziale Beziehungen sind ebenso stark eingeschränkt, da sie von vielen Bereichen des Lebens - wie Kinobesuche oder Musikunterricht - von vornherein ausgeschlossen sind. Prof. Dr. Christoph Butterwegge spricht hier von "strukturelle(r) Gewalt, die Kinder und Jugendliche noch härter trifft als Erwachsene".

Ausmaß der Kinderarmut

Als arm gilt in Europa jede und jeder, der weniger als 60 % des mittleren Nettoeinkommens seines Landes zur Verfügung hat. Also, für eine Familie in Deutschland mit zwei Kindern unter 14 Jahren wären das weniger als 1.926 € (netto) im Monat. Dies betrifft bis zu 19 % aller Kinder. In Ostdeutschland ist sogar jedes vierte Kind von Armut bedroht.  Fünf von 100 Minderjährigen leiden "unter erheblichen materiellen Entbehrungen", wie es das Bundessozialministerium ausdrückt. Bei Kindern von Alleinerziehenden ist das Risiko in Armut aufzuwachsen sogar mehr als doppelt so hoch wie in Zwei-Eltern-Familien.

Wie Ministerin Heike Werner bereits in ihrer Regierungserklärung erwähnte, leben allein in Thüringen fast 50.000 Kinder und Jugendliche in sogenannten Bedarfsgemeinschaften, das bedeutet, dass 15 % aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren in Thüringen auf Hartz IV angewiesen sind. Das sind etwa 1.500 mehr als es noch vor zwei Jahren. Die Quote für die Unter-15-Jährigen, die auf Hartz IV angewiesen sind, ist noch höher: Da sind es sogar 16 %.

Ursachen der Kinderarmut

Aber warum ist das so? Warum scheint es, dass keine Hilfsprogramme greifen und dass Kinderarmut bundesweit stetig zunimmt? Häufig wird bei der Beantwortung dieser Frage Ursache und Auslöser verwechselt. Nehmen wir z. B. eine junge Familie, welche sich nach der Geburt des dritten Kindes trennt. Die Kinder verbleiben einvernehmlich bei der Mutter, welche - noch in Erziehungszeit - nun für die nächsten Monate von Transferleistungen abhängig ist. In diesem Moment sind wir doch alle der Versuchung unterlegen, die Ursache der Verarmung dieser Familie in der überdurchschnittlich hohen Kinderanzahl und in der Trennung der Eltern zu sehen. Genau da liegt aber der Fehler. Diese Faktoren sind lediglich die Auslöser. In Wahrheit aber war diese Familie schon vor den Geburten der Kinder und vor der Trennung der Eltern unzureichend vor Verarmung gesichert und dieser strukturelle Fehler stellt die eigentliche Ursache dar. Ursache sind also strukturelle Zusammenhänge der gesellschaftlichen Verhältnisse. Auslöser dagegen bestimmte, individuelle, oftmals unfreiwillige Ereignisse im Lebenslauf, welche diese zugrundeliegende Verhältnisse erst vollends zur Wirkung kommen lassen. 

In den vergangenen Jahrzehnten kam es in Deutschland zu einer Umstrukturierung fast aller Gesellschaftsbereiche nach den Markterfordernissen - dieser Prozess wird auch "Globalisierung" genannt. Dadurch entstanden vermehrt atypische, prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Arbeitnehmer*innen - und damit logischerweise auch Eltern - haben daher oftmals kein ausreichendes Einkommen oder wie z. B. bei Minijobs noch nicht einmal einen sozialrechtlichen Schutz. Des Weiteren durften wir Zeugen des Um- und des Abbaus unseres Sozialstaates werden. Das In-Kraft-Treten der Gesetze von Peter Hartz stellt eine Zäsur in der Entwicklung von Armut und Unterversorgung in Deutschland dar und eröffnete ganz neue Zonen der Armut.

Maßnahmen gegen Kinderarmut

Wenn aber nun Armut von vielen Kindern die primäre Folge der Globalisierung und der Neoliberale Umstrukturierung ist, dann müssen wir aber auch ihr Pendant / ihr Gegenstück mit in den Blick nehmen, nämlich den Reichtum von wenigen Erwachsenen. Wenn wir Kinderarmut wirklich mit Erfolg bekämpfen wollen, dann müssen wir endlich anfangen, die Reichen zur Kasse zu bitten z. B. durch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer (ausgesetzt 1997 unter Kabinett Kohl) oder durch die Erhöhung der Erbschaftssteuer, um den Staat die nötigen Finanzmittel zu verschaffen. Denn die Antwort auf Kinderarmut kann nur der Ausbau des Sozialstaates sein. Hier benötigen wir einen Paradigmenwechsel vom schlanken - ja geradezu dürren - Sozialstaat hin zum interventionsfähigen, breit aufgestellten.

Außerdem brauchen wir eine neue, zeitgemäße Beschäftigungspolitik. Denn um Kinderarmut zu vermeiden, müssen existenzsichernde Arbeitsplätze für die Eltern geschaffen werden. Wir müssen anfangen darüber zu reden, wie wir in Deutschland Arbeit, Einkommen und Vermögen so umverteilen können, das es für alle zum Leben reicht.

Bis dahin müssen aber zuallererst die Regelsätze für Kinder und Jugendliche spürbar angehoben werden. Der Bedarf der Kinder darf dabei jedoch nicht länger von Erwachsenen abgeleitet, sondern muss dabei eigenständig ermittelt werden. Denn Kinder sind eben keine "kleinen Erwachsenen". Genau das hatte ja auch schon das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht. Ebenso sagte dieses, dass Ausgaben für die Erfüllung schulischer Pflichten zum Existenzminimum von Kindern gehören. Die Regierung hat aber mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ein derart bürokratisches Monstrum geschaffen, dass die Leistungen oftmals gar nicht bei den Kindern ankommen.

Die Entscheidungen der Regierung zum Kinderzuschlag, Kindergeld oder zu den Regelleistungen nach Hartz IV sind zur Verhinderung von Kinderarmut völlig unzureichend. Ich empfinde es z. B. als höchst fahrlässig, Kindergeld auf den Unterhaltsvorschuss oder die SGB II-Leistungen anzurechnen. Damit verwehren wir den Familien die sowieso nicht genug Geld zur Verfügung haben auch noch das letzte bisschen Hilfe. Das hat teilweises fatale, individuelle Folgen, die wir hier - so wie wir hier alles sitzen, in unseren bequemen Sesseln - gar nicht ermessen können.

Daher wird sich DIE LINKE weiterhin stark machen für:

- eine starke öffentliche Infrastruktur, die allen Kindern Förderung und Teilhabe ermöglicht

- eine gebührenfreie Bildung, die soziale Unterschiede ausgleicht und gleiche Chancen eröffnet

- eine familienfreundliche Arbeitswelt und gute Arbeitsbedingungen, die allen gesellschaftliche Teilhabe und finanzielle Sicherheit gibt

- den Ausbau des Sozialstaates, der die von Armut betroffenen nachhaltig unterstützt und den Namen Sozialstaat auch verdient

- und für eine eigene Kindergrundsicherung, für alle Kinder.

Denn nur so ist es unseres Erachtens möglich, die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nachhaltig verbessern und das Phänomen Kinderarmut ein für allemal zu überwinden.

 

Vielen Dank